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1051200 min – Mitgliederausstellung

5. Dezember 2023 @ 19:00 - 22. Dezember 2023 @ 18:00

Eröffnung am 5. Dezember, 19 Uhr

Einführung: Dr. Brigitte Reutner-Doneus, Kuratorin/Lentos Kunstmuseum

Mit: Armin Andraschko, Gerhard Brandl, Walter Ebenhofer, Gregor Graf, Margit Greinöcker, Katharina Gruzei, Otto Hainzl, Miriam Hamann, Eginhartz Kanter, Irma Kapeller, Thomas Kluckner, Sigrid Krenner, Thomas Kröswang, Katharina Lackner, Michael Lauss, Josef Linschinger, Gerlinde Miesenböck, Rainer Nöbauer-Kammerer, Monika Pichler, Claus Prokop, Reinhold Rebhandl, Otto Saxinger, Herbert Schager, Leo Schatzl, Klaus Scheuringer, Wilhelm Schwind, Edith Stauber, Stefan Tiefengraber, Betty Wimmer

Ausstellung: vom 6. – 22. Dezember 2023

Titelbild: Josef Linschinger, „www.maerz.at/Barcode 39“, 2023

 

 

Brigitte Reutner-Doneus

Einführung zu 1051200 min

Wir leben, wie wir täglich zu hören bekommen, in einer Zeit, in der die Umweltzerstörung eklatant
voranschreitet und zwei Kriege das Weltgeschehen beherrschen. Die planetare Krise ist so ernst,
dass der Philosoph Thomas Metzinger empfiehlt, sich mit dem neuen Selbstbild als scheiternde
Spezies auseinanderzusetzen, mit dem Ziel einer neuen Bewusstseinskultur.
Wir leben im sog. Internet-Zeitalter. Dieser Epochenbegriff ist mittlerweile auch im musealen Kontext
angekommen, wo dazu verschiedene kuratorische Konzepte zur Diskussion gestellt werden.
Künstler:innen arbeiten seit einiger Zeit mit Praktiken des Post-Internet, d.h. sie erkennen die Online-
Kultur als omnipräsenten Einfluss an. Ihre Fragestellungen haben sich massiv gewandelt. Nun
fragen sie, was es bedeutet, eine Fotografin/ein Fotograf zu sein, wenn jede/r eine/ein potenzielle/r
Instagramm-Influencer/in sein könnte?
Welchen Impact es auf die Videokunst hat, wenn jede/r ein TikTok-Videostar sein könnte? Wie
können wir im Zeitalter der sog. Memes, (also sog. kreativer Inhalte aus dem Internet) überhaupt
noch sinnvolle soziale Kommentare liefern?
Angekommen im Informationszeitalter, sind wir auch mit dessen Schattenseiten konfrontiert. Immer
öfter stellen wir fest, dass es besonders schwierig ist, den Wahrheitsgehalt von Dingen zu erkennen
und zu verstehen, da Fake News massiv um sich greifen. Die Idee des Copyrights wird
systematisch durch Re-Appropriation und Remixing unterwandert. Das Copyright wird dadurch ad
absurdum geführt.
Die ausgestellten Werke der Mitgliederausstellung der Künstlervereinigung MAERZ sind in den
letzten zwei Jahren oder 1.051.200 min entstanden. Dass sie frisch aus den Ateliers der Kunstschaffenden
kommen, könnte bedeuten, dass sie den einen oder anderen angesprochenen Aspekt
verhandeln. Mit der folgenden Subsummierung der unterschiedlichen Werkpositionen in sechs Kapitel
oder Rubriken hoffe ich, den Werken nicht ihre Komplexität abzusprechen. Mehrfachzuschreibungen
oder Zuschreibungen in anderen Kategorien wären in einigen Fällen ebenso möglich. Die
sehr heterogenen Positionen nehme ich wie einen vielstimmigen Chor über die Welt, in der wir leben,
wahr.

1. Kulturpessimismus und dystopische Entwürfe
Eine Reihe der ausgestellten Arbeiten befassen sich mit Zukunftsangst, woraus dystopische
Entwürfe erwachsen können. Als eine mögliche Reaktion auf die Resignation angesichts
der gegenwärtigen weltpolitischen Situation können wir die Flucht in andere Welten
oder Zeiten zählen. Einige der hier aufgeführten Positionen arbeiten mit Versatzstücken der
Sprache, mit gängigen Slogans oder Floskeln, deren ironischen oder zynischen Gehalt sie
bewusstmachen.
Eginhartz Kanters Werk spielt in seiner Installation mit losen, an Baustellenzäunen montierten Papierblättern,
buchstäblich auf den gescheiterten amerikanischen Traum an. Through hard work and
perseverance anyone can rise – die scheinbar unwiderlegbare Phrase wurde durch die Praxis
bloßgestellt. Sie ist schon lange kein allgemeingültiges Patentrezept mehr. Die sozialen Aufstiegschancen
vieler Menschen der Arbeiterklasse waren und bleiben äußerst gering. Diesem künstlerischen
Statement stelle ich folgende These entgegen: „So lange die Wirtschaft wächst, lebt die
Hoffnung, und Hoffnung macht große Einkommensunterschiede erträglich“, sagte einmal der ehemalige
Gouverneur der amerikanischen Zentralbank Henry Wallich.
Sigrid Krenner nimmt ebenfalls allgemeingeläufige Parolen als Ausgangspunkt für ihre Objekte. Mit
Und wir fahren fort mit gleichem Gerät 2.1. persifliert sie leere Worthülsen, die zu dem in der Geschäftswelt
üblichen Sprachgebrauch zählen. Der rosafarbene Automat mit zahlreichen Knöpfen
zum Drücken erweist sich als unglaublich charmante Retro-Attrappe, die mit betontem Zweckoptimismus
kritische Instanzen verschleiert.
Schauplatz von Katharina Gruzeis dystopischer Erzählung ist eine aufgelassene Zugstation des
19. Jahrhunderts in Schottland, in der sie eine aufsehenerregende, filmreife sowie ungemein ästhetische
Actionszene stattfinden lässt. Das Spiel mit dem Element Feuer verleiht der Handlung
drastische Schärfe. Diese Metapher der Zerstörung und Unwiederbringlichkeit kann sinnbildhaft für
viele dramatische Einschnitte unserer gegenwärtigen Zeit stehen.
Gerhard Brandl taucht mit seiner bildlichen Auseinandersetzung zeitlich in Goethes Arkadien ab.
Mit den Mitteln der Akzentuierung und motivischen Erweiterung gibt er dem historischen Sujet einen
zeitgenössischen Turn. Der Strommast führt jene Desillusionierung herbei, die uns den Verlust
Arkadiens deutlich werden lässt. Durch die Verbrechen an der Natur haben wir uns selbst aus dem
Paradies hinauskatapultiert.
Thomas Köswangs fragile, überzeichnete Fotografie lässt viele Interpretationen zu. Die diaphan
dargestellte Person vor einem Schiffswrack erinnert in ihrer nachdenklichen Pose an Dürers Kupferstich
Melencolia. In der selbstversunkenen Auseinandersetzung mit der Tragödie des Scheiterns
liegt eine unergründliche Schönheit.

2. Wissenschaftliche Recherchen als Basis von Kunst
Künstler:innen ziehen umfangreiche Studien als Basis für ihre ästhetischen Auseinandersetzungen
heran. Sie widmen sich der Protokollierung des Gegebenen in ästhetischer
Weise und zeigen uns damit eine andere Sicht der Dinge.
Miriam Hamanns Lichtinstallation And the point is called the center of the circle erinnert mich an
Kandinskys epochale theoretische Schrift „Punkt und Linie zu Fläche“, in der er als erster abstrakter
Künstler die Möglichkeiten des grafischen Zeichnens abseits einer beschreibenden Funktion
erarbeitet hat.
Josef Linschingers maerz.at-barcode 39 ist ein klassisches Beispiel konkreter Kunst. Die Webadresse
der 1913 gegründeten MAERZ-Vereinigung ist in dieser Arbeit codiert. Das Werk ist
auch auf der Einladung zur heutigen Mitgliederausstellung abgebildet. Linschingers Arbeit ist mit
Systematik hinterlegt und erhebt den Anspruch erhebt, im Aufbau wissenschaftlich nachprüfbar
zu sein. Andererseits spielt es auch auf die Verschlüsselungsthematik an. Wir können den Inhalt
von Barcodes nicht ohne entsprechende Gerätschaft entschlüsseln. Wieviel Macht haben wir an
Technik und Technologie bereits abgegeben?
Rainer Nöbauer-Kammerer betrieb im Vorfeld zu seiner hier ausgestellten Arbeit Feldforschung. In
Glasgow setzte er sich mit den Bräuchen der lokalen Taubenzüchter auseinander. Seine abstrakt
anmutenden Betonskulptur-Tafeln referieren auf die Grundrisse von Taubenschlägen. Taubenzucht
ist ein soziologisches Phänomen, das Menschen miteinander verbindet und in Interaktion
bringt.
Monika Pichlers großformatige Arbeit mit dem poetischen Titel pukeko and algue arbeitet mit der
Siebdrucktechnik auf Basis von Fotografien, die die Künstlerin auf ihren Reisen gemacht hat.
Formgelegenheit dieser Arbeit ist das in Neuseeland endemische Purpurhuhn, das die Gewohnheit
hat, am Boden zu fressen. Die Kulisse hinter dem Tier mit gestisch wirkende, herabhängenden
Algen bezieht sich auf die Nahrung des exotischen Pflanzenfressers.

3. Photography now
Der südamerikanische Fotograf Alfredo Jaar sagte einmal: „You do not take a photograph,
you make it“. Mit dem Einsatz von KI sind wir in der Ära der Postfotografie angekommen.
KI-basierter Fotografie kam bei der letzten Pariser Fotomesse im November eine eigene
Sparte zu. Es ist höchste Zeit, den Begriff der Fotografie auf Bildproduktion zu erweitern.
Otto Saxinger zieht für seine künstlerische Arbeit Bilder aus der Medienwelt heran. Er setzt die
Durchleuchtung als Metapher für das epistemische Potenzial der Kunst ein. Mediale Versatzstücke
werden auf diese Art und Weise analysiert und kreativ zu neuen Realitäten transformiert. Die Rolle
der Fotografie als Spiegel der Realität wird damit gründlich hinterfragt.
Walter Ebenhofers konzeptuell-dokumentarische Fotoarbeit Das Gewicht der Gegend befasst sich
den digitalen Möglichkeiten des Überschreibens von Bildinhalten. In seinem Bild wurde die fotogra3
fische Aufzeichnung eines Felsbildes auf einer Holztafel angebracht. Die geologischen Bergstrukturen
treffen formal auf die Strukturen einer Birkensperrholzplatte. Das reale Gewicht der Gegend,
i. e. der Berge, büßt durch die Holzmaserungen an Illusionscharakter ein. Verfotografierung verfremdet
den Abbildcharakter eines Kamerabildes, das sich in ein abstrahiertes, autonomes Bild
wandelt.
Ebenhofer ist derzeit mit Arbeiten in der Ausstellung Glitch – die Kunst der Störung in der Pinakothek
der Moderne in München vertreten. Bei einem Glitch wird das Makellose unterwandert.
Leo Schatzls Foto eines Innviertler Stausees befasst sich ebenfalls mit einer Bildstörung. Sie entstand
als digitale Nachtaufnahme. Schatzls künstlerisches Interesse gilt dem Making-of von Technologien.
Bildstörungen geben Aufschlüsse über die Arbeitsweise des jeweiligen Mediums. Die
bildgenerative Technik zu dekonstruieren, bedeutet das Bild in seiner Eigenwertigkeit zu sehen –
oder wie Pipilotti Rist sagen würde: „Die gestörten Bilder sind der Wahrheit näher.“
Herbert Schagers Acrylglasfotos entstanden unter dem Einsatz von künstlicher Intelligenz. Das
Magazin Monopol hievte in seiner heurigen Rangliste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten
der Kunstwelt die Künstlichen Intelligenz auf den zweiten Platz. Am ersten Platz rangiert die deutsche
Künstlerin Isa Genzken. Die Begründung für den zweiten Platz lautete: „KI durchdringt jeden
Alltag und rührt an das Herzstück menschlicher Existenz und Identität: Wie soll man von nun an
das Echte vom Falschen unterscheiden?“, so das Magazin. Durch den Einsatz von KI geben
Künstler:innen ihre Arbeit nur scheinbar ein Stück weit aus der Hand. Tatsächlich wird mit Remixing
und Reappropriation die besonders brisante zeitgemäße Frage nach den Urheber:innen von
Kunstwerken gestellt.
Otto Hainzls unbetitelte Fotoarbeit aus der Serie Wir – Dramaturgie des sozialen Lebens präsentiert
sich als digitales Objet-Trouvé, das der Fotograf in einem Wohnhaus in seiner näheren Umgebung
aufgefunden hat. Anpassungen an zeitgemäße Bedürfnisse, technische Erneuerungen machen
dem Gekreuzigten seinen angestammten Platz streitig – Sinnbild einer Zeit, in der herkömmliche
Glaubensgemeinschaften Säkularisierungstendenzen unterworfen sind und den Ball an Ersatzreligionen
abgeben müssen.
In einem seiner Essays erzählt der bayrische Schriftsteller Herbert Rosendorfer von einem Chinesen,
der einmal durch die Nationalgalerie einer großen Stadt ging und die dort ausgestellte, ihm
fremdartige Kunst betrachtete. Anschließend nach seinem Eindruck gefragt, sagte er, es erstaune
ihn am meisten, daß die Großnasen ihren Gott mit Vorliebe so gut wie nackt darstellten. Alle Erklärungen,
die dem Chinesen daraufhin gegeben wurden, befriedigten ihn nicht. Der Autor schloss
daraus, dass die einzige wirklich befriedigende Erklärung jene sei, daß die gewaltigen ikonographischen
Karrieren Jesu, der Madonna und Adams und Evas auf die Tatsache der Identität von Erotik
und Kunst zurückzuführen seien.

4. Gebaute Konstruktionen als Welterklärungsmodelle
Kunst als Ergebnis von Konstruktionen aus geometrischen oder konkreten Formen und
Farben. In der zwei- oder dreidimensionaler Umsetzung wirken sie wie Modelle, zum besseren
Verständnis der größeren Zusammenhänge, die unsere Welt zusammenhalten. Der Theorie
von Makrokosmos und Mikrokosmos zufolge findet sich Großes in Kleinstrukturen wieder
und umgekehrt. Dadurch wird das Konzept eines Masterplans versinnbildlicht, wonach
alles miteinander in Verbindung steht.
Stefan Tiefengrabers Arbeit repräsentiert unkontrollierbare Zwischenfälle, vor denen selbst technische
Geräte nicht gefeit sind. Seinem kugelförmigen Apparat ist der Topos des Kontrollverlusts immanent
– ähnlich dem Besen des Hexenmeisters in Goethes Ballade vom Zauberlehrling.
Claus Prokop setzt sich in seiner künstlerischen Arbeit mit Chaos und Ordnung auseinander. Prokops
Werke sind Kompositionen mit abstrakten Anschauungsqualitäten, denen eine gewisse
Rhythmik, bestimmte Gesetzmäßigkeiten unterlegt sind. Er interessiert sich für die inneren Strukturen
von Dingen. Die Bildstrukturen negieren die Grenzen des Bildrandes und ragen darüber hinaus.
Als pars pro toto zeigen sie einen Ausschnitt aus einem größeren Ganzen. Regelmäßige
Strukturen, oder Pattern, wie sie der Künstler nennt, finden sich aber nicht nur in technischen
Schaltplänen, sondern auch in physikalischen Phänomenen. In Summe verweisen sie auf den
oben angesprochenen Masterplan von Mikro- und Makrokosmos.
Thomas Kluckner arbeitet mit konkreten Formen und spezifischen Farbzusammenstellungen an
dreidimensionalen Werken. Seine hockerähnlichen Objekte verwischen die Grenzlinie zwischen
Kunst und Leben, indem sie zwischen Ästhetik und Funktionalismus changieren.
In unterschiedlichen Farben gestrichen, verschränken und akkumulieren sich in Michael Lauss‘ Arbeit
einzelne Objet trouvés zu einer konvexen Form, die aus der Ausstellungswand herauszuwuchern
scheint. Beule als Titel seiner geschichteten Wandarbeit referiert auf eine exogene menschliche
Anomalie. Verdichtetes, recyceltes Holz als Ausdrucksmittel für eine dynamische Körperreaktion.
Auch Reinhold Rebhandl arbeitet mit Schichtungen, die allerdings tiefenprojektiv angelegt sind und
in den Illusionsraum von Gemälden führen. Als kunstvoll umgesetzte Überlagerungen thematisieren
sie das Gleichzeitige als spezifische Kategorie des Seins, nach der das Werden als Sein begriffen
werden kann.
Wilhelm Schwinds Gemälde erzeugen mit ihrem abstrakt-expressiven Duktus einen ungemein
energiegeladenen Ausdruck. Das X sticht darin als besonders dynamische Form hervor, das sphärische
Wirkungen evoziert. Es lässt sich aber auch als unbekannten Faktor lesen. Die Gemälde
changieren zwischen ihren unterschiedlichen Lesarten von Schrift und Bild.

5. Female Art – Gender und Repräsentationskritik
Frauen kommunizieren bestimmte Trigger in Techniken, die ihresgleichen zugeschrieben
werden und die sie dafür bewusst ausgewählt haben. Ob es nun um Herausforderungen
des künstlerischen Alltags, Fragen der eigenen Identität oder der feministischen Repräsentation
geht.
Margit Greinöcker thematisiert in ihrer Installation negative Erfahrungen des künstlerischen Alltags,
die nicht nur Frauen betreffen. Ihre fragile Karriereleiter besteht aus einer genähten Verkettung
von Textstreifen, die Ablehnungen und Zurückweisungen von künstlerischen Projekten thematisieren.
Sie führt von der Raumdecke herunter und demonstriert damit einen Abstieg, der irgendwann
beendet sein wird. Aus der Kunstgeschichte kennt man die Jakobsleiter, auf der Engel ab- und
aufsteigen. Durch das Kreuz Christi (i.e. durch das Leiden) wird in dieser Lesart der Weg zum
Himmel erschlossen. Absteigen – aufsteigen – vielleicht ist alles nur Kreislauf?
Betty Wimmers Under pressure verleiht den existentiellen Ängsten von Künstlerinnen dreidimensionalen
Ausdruck. Zusätzlich zu ihrer künstlerischen Praxis sind Frauen angehalten, sich auch der
Kindererziehung zu widmen und noch weitere Einkommen zu generieren. Wie soll sich das alles
ausgehen? Under Pressure ist ein gläserner Quader, dicht gefüllt mit Spielzeug, Zeitungsausschnitten,
Haushaltsdingen, Resten von Resten, wie ein Druckkochtopf vor der Explosion. Wie
eine verzweifelt-lustvolle Allusion auf das pralle Leben, in seiner scheinbaren Imperfektion.
Auch Irma Kapeller hat ihr Werkmaterial dem echten Leben entnommen. Das verstrickte Toilettenpapier
wirkt wie eine Zeichnung im Raum. Es erzeugt einen luftigen Vorhang, einen transparenten
Paravant, ein Kunstobjekt. Eine Metapher auf die Leichtigkeit des Seins, für die auch scheinbar
Unorthodoxes, Artfremdes in den Kunstkontext überführt werden kann, weil nur die Anschauungsqualität
zählt.
Katharina Lackners virtuose, fein ausgeführten Bleistiftzeichnungen tragen bisweilen surreal anmutende
Titel. Butterflies drink turtle tears (also Schmetterlinge trinken Schildkrötentränen) ist ein
Phänomen, das Lachryphagie genannt wird – es ist eine Möglichkeit, wie Schmetterlinge an wertvolle
Nahrung gelangen können.
Auch die Titel Everything in front of you und Furniture, rope and stars sind in Anbetracht der Zeichnungen
poetisch und surreal zugleich. Diese erinnern mich an Mirós Bildgedichte. Sie kreieren ein
poetisches Bilduniversum, in dem Worte redundant werden.
Gerlinde Miesenböcks Angela aus der Serie autres setzt sich mit der Repräsentation weiblicher
Identität auseinander. Auf das Brustbild reduziert, erfährt der auf die Antike angewendete Begriff
des Torsos hier eine zeitgemäße Adaption. Bei der „kopflosen“ Angela richtet sich der Blick auf ihren
bekleideten Oberkörper, wodurch Fragen der Selbstvergewisserung aufgeworfen werden.
In Edith Staubers Bildserie mit dem Titel Gedicht auf blauem Leintuch verdichten sich fragmentierte
Körperformen zu einer visuellen Konstruktion, die wie ein futuristisches Bild wirkt. Die Arbeit
erinnert mich an den Kinetismus von Erika Giovanna Kliens Zeichnungen. Gedicht auf blauem
Leintuch ist wie die ästhetische Zeitraffer-Dokumentation einer unruhigen Nacht, oder wie die
zeitende Abfolge eines modernen Tanzes, komprimiert in wenigen Einstellungen, im Übergang von
der Gegenständlichkeit in die Abstraktion.

6. Memes und Portraits
Im Internet tauchen verstärkt neue Sinnbilder auf – sogenannte Memes. Es wird beteuert,
dass die konstruierten Bild-Text-Kombination geeignet seien, die Realität auf zeitgemäße
und humorvolle Art und Weise zu hinterfragen. In dieser Kategorie geht es um Portraits, die
mit zeitgemäßen Tools umgesetzt wurden.
Armin Andraschko präsentiert uns (s)ein subjektiv-exzentrisches Porträt, ergänzt mit schriftlichen
Kommentaren. Das zeitgenössische Sinnbild erinnert an Graffiti mit suburbanen Hintergrund. Der
dazu gepinselte, unaufgeregte, selbstkritisch-ironische Kommentar verleiht der Arbeit große Sympathiewerte.
Ein Meme, das ganz ohne KI auskommt.
Gregor Grafs Montera, ebenfalls eine Bild-Text-Kombination, wurde nach einer spanischen Kopfbedeckung
benannt, die auch in Picassos Stierkampfbildern vorkommt. Das Bild wirkt, als sei es –
gemäß surrealen Praktiken – vom Zufall geprägt. Durch die Aussparung des Gesichts wird der
Spannungsaufbau im Bild erhöht. Ähnlich einem surrealen Bild dockt das Aquarell an das Unterbewusstsein
an, an Bilder, die man schon einmal anderswo gesehen haben könnte. Auch die KI arbeitet
mit Zufallszuteilungen, die sich u.a. aus unterschiedlichen, im globalen Bildschatz gefundenen
Versatzstücken zusammensetzen können. Montera als ein Beispiel künstlerisch gesteuerter
Remixing- und Reappropriationstrategien.
Trotz seiner drastischen inhaltlichen Information dominiert die positive Signalwirkung in Klaus
Scheuringers Headcleaner, der sich formal an die Pop-Art-Ästhetik anlehnt. Das sonnengelb
leuchtende, statische Schriftbild hängt hoch im Raum und verströmt eine beruhigende Wirkung wie
ein surrender Ventilator. Er überleuchtet den Raum und verbreitet aus dieser erhabenen Position
eine beinahe sakrale Wirkung. Headcleaner eignet sich als ästhetisches Gegenmittel für die in unserer
Zeit konstatierte Reizüberflutung. In den Zeitungen werden nur mehr die Headlines gelesen,
im Internet ebenso. Wir glauben, dass wir dadurch Zeit einsparen. In Wahrheit schleicht sich ein
gefährliches Halbwissen ein und Fake News werden als solche häufig nicht mehr erkannt.
Die Welt im Umbruch. War sie das nicht schon immer? Oder fällt uns das erst jetzt verstärkt durch
die Aktionen der Letzten Generation auf? Fest steht, dass wir verstärkt nach Orientierung suchen,
nach Welterklärungsmodellen und positive Prognosen vergeblich herbeisehnen. Künstler:innen
werden oft als Seismograf:innen gesehen.
Fazit: Die Auseinandersetzung mit dieser Ausstellung bringt einen enormen Erkenntnisgewinn,
ohne moralisierend zu sein. Wenn wir die Botschaften hinter den Bildern sehen, wird es uns gelingen,
vertiefte Einsichten in unsere Zeit zu gewinnen.

Dr. Brigitte Reutner-Doneus, 2023

Details

Beginn:
5. Dezember 2023 @ 19:00
Ende:
22. Dezember 2023 @ 18:00
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